Stubenhockerei

Wir gehen nie hinaus, wir bleiben nur zuhaus'.

Otesánek (2000)

littleotik

Jan Švankmajer hat, wie wir bereits gemerkt haben, eine ziemliche Obsession mit dem Essen. Das umfasst das Arrangement von Lebensmitteln zu Arcimboldo-Figuren, das Verderben und Verfaulen der besagten Lebensmittel, die Rituale der Nahrungsaufnahme – vor allem aber geht es ihm um den eigentlichen Vorgang des Essens: Das Kauen, das Mampfen, das Schlucken und, ja natürlich, das Fressen.

Otesánek (Little Otik aka Greedy Guts, 2000) dreht sich, so könnte man zumindest denken, einzig und allein um Letzteres. Schließlich ist auch dieser Film eine Neuinterpretation des gleichnamigen tschechischen Märchens über ein unfassbar gefräßiges Monster: Božena und Karel wünschen sich um jeden Preis ein Kind, was aufgrund der Unfruchtbarkeit beider Partner jedoch hoffnungslos scheint. In einem kruden Versuch, seine deprimierte Frau aufzuheitern, formt Karel aus einem aus dem Boden gerissenen Baumstumpf ein, nun, sagen wir: babyartiges Objekt. Er bereut den Scherz jedoch recht schnell, nachdem Božena das Holzbaby als ein menschliches wahrzunehmen scheint und einen Plan ausheckt, mit dem sie das Holzbaby als ihr eigenes ausgeben können.

Es naht die vorgetäuschte Geburt, und bis auf das (übereifrig an Fortpflanzungsmethoden interessierte) Nachbarsmädchen Alžbětka zweifelt niemand an Boženas angeblicher Schwangerschaft. Zu diesem Zeitpunkt wirkt der Film noch wie ein halber Švankmajer – wo sind die Animationen, wo ist die Magie? Wir ahnen es schon: Neun Monate nach seiner Zeugung wird das Holzbaby plötzlich lebendig; es tobt und schreit und windet sich in seiner Babykleidung, und wirkt, in den gewandten Worten von Herrn Fräulein Himbär, wie der beste Freund des Eraserhead-Babies (und wie ein naher Cousin des Logs aus Twin Peaks, möchte ich hinzufügen) – sehr zur Freude von  Božena, und zum totalen Entsetzen von Karel, der mehr als nur einmal versucht, das groteske Dingsbums umzubringen.

Darauf folgt, wie Alžbětkas Recherchen uns im Film erklären, die ganze Tragik des erwähnten Märchens. Das Holzbaby, das von Karel passenderweise Otik (als Kurzform von Otesánek) getauft wird, wächst auf eine ungeahnte Größe und vertilgt zunächst die Katze der Familie. Es folgt ein Postbote und schließlich eine Sozialarbeiterin, bevor Karel beschließt, den „kleinen“ Otik in den Keller zu sperren. Obwohl Alžbětka zu diesem Zeitpunkt schon weiß, wie das Märchen weitergehen sollte (mit einem massenmörderischen Fressamoklauf und schließlich der Ermordung Otiks durch eine um ihre Blumenkohlernte gebrachte Großmutter), will sie sich mit Otik anfreunden, was so weit geht, dass sie sogar (naja, „sogar“) den alten pädophilen Nachbarn Žlábek an ihn verfüttert.

Von dort nehmen die Dinge ihren Lauf. Zumindest irgendwie. Es wird schnell offensichtlich, dass Švankmajer das Märchen nicht kopieren will, sondern nur als Ausgangspunkt für eine ganz andere Thematik verwendet. Umso mehr verwunderte mich die in einigen Kritiken gelesene Interpretation, nach der Švankmajer sich mit seinem Film gegen das angebliche „Erzwingen“ von Kindern/Lebewesen gegen den Willen der Natur richtet, also hier sozusagen die moralische Gleichung „Retortenkinder = Frankensteins Monster“ aufstellt.

Es ist verständlich, dass man den Film so auffassen kann, es ist aber eine (vielleicht sehr deutsche) Interpretation, die meiner Meinung nach an Švankmajer und seinem Film vorbeigeht. Schließlich ist Otik kein Monster im Frankenstein’schen Sinne; er ist, trotz seiner blutig-gorigen Fressgemetzel, nicht wirklich furchterregend, sondern einfach nur ein zum Leben erwecktes Objekt, dass sich in der Welt der Menschen nicht wirklich zurechtfindet. Wie so oft bei Švankmajer prallen auch hier zwei Welten aufeinander, die nicht immer freundlich miteinander interagieren. Wer dabei gut und wer böse ist, bleibt allerdings dahingestellt – Otik steht dem Leiden der von ihm verputzten Menschen vollkommen indifferent gegenüber, genauso indifferent wie der menschliche Koch in Švankmajers (in diesem Film als Fernsehwerbung auftauchenden) Meat Love (1989), der die junge Liebe der beiden Fleischstücke brutal beendet.

Für mich liegt das Problem mit der genannten Interpretation aber vor allem in einem weiteren Aspekt dieses Films: Letztlich existieren hier nämlich nicht bloß zwei, sondern drei unterschiedliche Welten – die der Erwachsenen, die Otiks und die von Alžbětka. Während der Zusammenstoß Otiks mit der Erwachsenenwelt zu einer Fortschreibung des Märchens führt, in der die Entwicklung im Voraus determiniert ist, begegnet Alžbětka ihm auf eine Weise, die diesen Determinismus zunächst aufzulösen scheint. Otik frisst sie nicht, scheint sogar vorerst mit den Eintöpfen von Alžbětkas Mutter zufrieden. Alžbětka sieht Otik nicht als Monster, sie sieht ihn nicht als das lange erhoffte Kind, an das Božena sich verzweifelt klammert. Klar, sie ist auch auf der Suche (nach einem Freund), sie stellt aber keine Ansprüche, sie stellt ihn nicht dem gegenüber, was ein „richtiger“ Mensch sein sollte. Alžbětka verkörpert eine Welt der Phantasie und der Möglichkeiten, die in der Erwachsenenwelt nicht mehr vorhanden sind (Außer vielleicht bei ihrem konstant alkoholisierten Vater, dessen Phantasie allerdings manchmal sehr unkontrollierte Wege einschlägt).

Tatsächlich bekommt man den Eindruck, dass der Weg, den diese Geschichte einschlagen kann, und das Ende, auf das sie hinausläuft, ab Alžbětkas Eingriff wesentlich weniger determiniert ist, als es anfänglich scheint. Otiks Morde, genauso wie sein (wahrscheinliches) Ende, sind nicht seiner angeblichen Retortenbaby-Monströsität, sondern einem komplexen Dilemma des Aufeinandertreffens mehrerer Welten geschuldet; man könnte auch sagen: Einer Phantasielosigkeit der Erwachsenenwelt, durch die sich die Geschichte nur wiederholen kann. Aber vielleicht ist auch das nur eine weitere Überinterpretation.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 1. Juni 2013 von in Filme und getaggt mit , , , , .
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