Stubenhockerei

Wir gehen nie hinaus, wir bleiben nur zuhaus'.

Sebastiane {Derek Jarman, 1976}

sebastiane

Es ist erstaunlich, wie einzigartig Sebastiane* bis heute ist. Da ist natürlich das gesprochene Latein, in dem „Motherfucker“ als Ödipus übersetzt wird, in dem man Witze über den römischen Adel macht und sich gegenseitig neckt. Da sind die meistens nackten Männer, die sich in ihrer Nacktheit ganz natürlich bewegen, rumhängen und rasieren. Und natürlich die zärtlich gefilmten Körperlichkeiten zwischen den beiden offen homosexuellen Anthony und Adrian, die fröhlich und ausgelassen nackt im Wasser toben, während das Sonnenlicht auf den Wassertropfen zwischen ihren Körpern glitzert. Das ist im ersten Augenblick so cheesy und amüsant, dass fast das Wesentliche an dieser Szene verloren geht: Die Selbstvergessenheit zweier Menschen, die Ausgelassenheit und Fröhlichkeit, die nichts mit Orgasmen, der Gier nach sofortiger Befriedigung und, auf die Nacktheit bezogen, nichts mit Pornographie zu tun hat. Der männliche Blick auf einen Mann wirkt, trotz der Homosexualität des Blickenden, viel entspannter und gewaltloser als der gewohnte (männliche) Blick auf Frauen.

Aber die Menschen sind auch heute noch nicht bereit für einen Film wie Sebastiane; dabei wirkt die Szene zwischen Anthony und Adrian gerade jetzt, angesichts des Weltgeschehens wieder so tröstend, aber dann wiederum auch so ernüchternd. Zwei Männer, die sich so liebevoll in den Armen liegen, sind eigentlich ein so starkes Bild für Friedlichkeit und Toleranz, so albern das auch klingen mag. Aber eines der abstoßendsten Dinge, das einem Filmpublikum passieren kann, sind leider immer noch Penisse und offen ausgelebte Homosexualitäten. Also feiert man einfach eine Schnarcherei wie Brokeback Mountain ab, um sich dann die nächsten 5o Jahre für seine Toleranz auf die Schulter zu klopfen.

Letztes Jahr im Februar, da haben wir Sebastiane schon ein mal gesehen. Damals wirkte er noch viel leerer auf mich; aber jetzt, beim zweiten Sehen und mit mehr gesehenen Filmen von Jarman, fühlte er sich wie eine Oase in unserer kontemporären Wüste aus Zynismus, Religionsidiotie und Alltagspornographie an. Und mit jedem weiteren Film aus der Vergangenheit, den wir ansehen, fällt es mir schwerer in die heutige Welt zurückzukehren. Nicht, weil ich denke dass früher irgendwas besser war, sondern weil es manchmal so bestürzend ist, wie wenig relevant es ist, wann wir leben – die wesentlichen Dinge, die guten, werden niemals mehr als eine Randnotiz sein. (Malina)


*Eigentlich hätte Derek Jarman den Film lieber Sebastian genannt, da er das angehängte e prätentiös fand; aber es wurde ihm aufgedrängt und ich frage mich, ob man sicherstellen wollte, dass ein so homosexueller Film mit einem „verweiblichten“ Namen behaftet wird, damit die homophobe Welt ein bißchen ruhiger schlafen kann.

» Stills & .gif

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 7. September 2014 von in Filme und getaggt mit , , .
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