Stubenhockerei

Wir gehen nie hinaus, wir bleiben nur zuhaus'.

Die Gefährlichkeit der großen Ebene von Ror Wolf (1976)

gefaehrlichkeit_d_grossen_ebene(Gut, eigentlich hatte ich ja versprochen, hier nur in den vergessenen Schätzen der Literatur zu kramen, zu denen Ror Wolf, der letztes Jahr durch seinen neuen Roman Vorzüge der Dunkelheit von sich Reden machte und zudem vor allem für seine sehr populären Fußballtexte und -hörspiele bekannt ist, vielleicht nicht unbedingt gehört. Aber sei’s drum, die Auflagen seiner sonstigen literarischen Veröffentlichungen sind niedrig genug.)

Ein namenloser Tütensuppenvertreter sitzt in einem Hotel, steht am Fenster, schaut heraus und stellt sich vor, wie es wohl wäre, herauszugehen. Er imaginiert sich Nobo, seinen Reisebegleiter und beginnt ein Abenteuer durch eine Welt, wie nur Ror Wolf sie entwerfen kann:

Ich befand mich ganz sicher in einer Stadt. Die ungeheure Größe von etwas, die nahezu unglaubliche Größe von etwas war zu bemerken, ein glatzenhaft angeschwollener kuppelartiger Auswuchs, heraus aus der Stadt. Und viele beachtliche Spitzen, die in die Schlitze des Himmels hineindrangen und außerordentlich wichtige andere Dinge, Simse und Söller und fette Terrassen und Läden mit wachsbleichen Schweinen und ziemlich gewölbte Schlachthaushallen, aus denen verwesendes Blut herausfloß, ein schwarzes Erbrechen war zu bemerken, genug davon, wirklich ein schwärzliches zähes Erbrechen von Blut, genug, ja von Blut und von Blut undsoweiter von Blut. Punkt. Punkt. Zweimal Punkt. […]

Es ist bezeichnend, dass nicht die Läden und Schlachthäuser, sondern die Terrassen „fett“ sind, denn diese Welt, die Wolf hier in einer immer apokalyptischer werdenden Sprache schildert, wirkt immer wie mit einer Schicht aus ranzigem Fett, aus Fleisch, aus Körperflüssigkeiten und ähnlichem überzogen. Alles steigert sich zu Bildern, die irgendwo zwischen der Offenbarung des Johannes, Hieronymus Bosch und David Lynch verortet werden könnten:

Die Flüsse kochen in seiner Beschreibung, die Sonne zerspritzt, und die Gegend, sagt Nobo, ist einfach ein Brei mit Baumkadavern und Dunghaufen und zerrissenen jungen Kühen, zum Teil schon verzehrt, diese Gegend, sagt Nobo, ist einfach ein rohes Fleisch mit Knochensplittern und platzenden Sehnen, mit Bergen wie Brei und Städten wie Brei und alles, verstehen Sie, wie Brei, wohin man sieht Brei Brei Brei Brei, eine fleischartige Landschaft, schwitzend natürlich, mit Schuttmulden Grasnarben Rinderritzen, und diese Gegend, sagt Nobo, ist voll von Hasenhaaren und Schlackenstücken.

Die Gefährlichkeit der großen Ebene ist in einem sehr Bachtin’schen Sinne grotesk; alles geht formlos und flüssig, oder eher: schleimig ineinander über, alles ist irgendwie organisch, fleischlich, zerfallend; überall finden sich Ausstülpungen und Öffnungen, oder manchmal auch scharfe Kanten, die auf den Körpern der Figuren Ausstülpungen und Öffnungen erzeugen. Selbst die Hauptfiguren, der Erzähler und Nobo, gehen konstant ineinander über, bleiben den Rollen, denen man ihnen als Leser zuschreiben möchte, nicht treu. Wenn neben den Hauptfiguren weitere Menschen auftauchen, sind sie zumeist in Gruppen, in denen sie grundlos schreien oder lachen, oder, auch ein sehr beliebtes Motiv, fressen; fressen wie nur bei Ror Wolf gefressen werden kann (man lese dazu auch seinen ersten Roman, Fortsetzung des Berichts). Manchmal tauchen sie auch aus dem Nichts auf, springen durch Türen oder Fenster, sagen etwas, und man fragt sich, was wohl passieren wird, und es entsteht kurzzeitig so etwas wie ein klassischer Moment der Spannung – was jedoch sofort abgebrochen wird. Durchs, oder auch aus dem Fenster springende Menschen führen hier nicht zwangsläufig zu irgendwelchen Konsequenzen; ihr Schicksal ist dem Erzähler nicht egal, sie haben gar kein Schicksal.

Franz Kafka, Robert Walser, Samuel Beckett: So lautet die Liste jener, die üblicherweise als Einflüsse auf den Wolf’schen Stil genannt werden. Wo, außer bei den dreien, würde man bei der Beschreibung eines sozialen Aufeinandertreffens einen Satz vermuten wie:

Ich nahm eine Hand und schüttelte sie ein bißchen.

? Aber neben diesem immer mitschwingenden Gefühl der vollkommenen Entfremdung, in der Menschen nur noch als Töne und Bewegungen erzeugende Körper wahrgenommen werden, spürt man in dem Stil des Erzählens auch den Einfluss Peter Weiss‘, Alain Robbe-Grillets und generell des Nouveau Romans, mit seinen übertriebenen und gleichzeitig unzureichend präzisen Beschreibungen von räumlich-visuellen Eindrücken; einem Präzisions- und Wahrheitsanspruch, der das Ausdrückbare zu erschöpfen scheint und von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist. Man denke an Robbe-Grillets Die Jalousie, in der sich der erzählende Ehemann genauso sehr mit der Beschreibung der Affaire seiner Frau wie mit den geometrischen Mustern von Schatten auf Fensterbrettern oder der Anordnung von Holzscheiten auf einer Brückenbaustelle aufhält. Und ähnlich wie bei Wolf verschwimmen auch hier Beobachtungen und Phantasien, ohne dass ein klarer Übergang oder eine Abgrenzung zu erkennen ist. Alles muss doppelt und dreifach beleuchtet, manchmal beliebig oft wiederholt werden, als würde es dadurch konkreter, fassbarer, wobei genau das Gegenteil passiert.

Die eigenartige Dynamik zwischen dem Erzähler in Die Gefährlichkeit der großen Ebene und seinem Begleiter Nobo, mit seinen makaber-melodischen Ortsbeschreibungen, erinnert zuweilen auch an den (anderen) Meister der sprachlichen Wiederholung und Steigerung, Thomas Bernhard. Mir wurde insbesondere sein erster Roman, Frost, ins Gedächtnis gerufen, in dem die düsteren, ebenfalls von Fleisch-Metaphorik durchzogenen Monologe der Hauptfigur, des Malers Strauch, in all ihrer Scheußlichkeit immer wieder an eine groteske Art von Komik grenzen:

[…] Man steckt den Säuglingen „Schnapsfetzen“ in den Mund, damit sie nicht Schreien. Viele Mißgeburten. Der Anenkephalos ist hier zu Hause. Man hat keine Lieblingskinder, sondern nur eine Menge Kinder. Im Sommer trifft sie der Hitzschlag, denn ihr feines Gewebe hält der Sonne nicht stand, die oft grausam herunterbrennt. Im Winter erfrieren sie, wie gesagt, auf dem Schulweg. Der Alkohol hat die Milch verdrängt. […] Größtenteils kriminelle Naturen. […] Die Schulen haben den allerniedrigsten Standard, und die Lehrer sind hinterhältig, verachtet wie überall. Gehen oft an Magengeschwüren zugrunde. Die Tuberkulose versetzt sie in eine milchige Melancholie, aus der sie nicht mehr herauskommen. […]

Womit wir beim letzten Punkt wären: In Die Gefährlichkeit der großen Ebene ist die Komik nicht nur unterschwellig spürbar; das Buch ist trotz seines literarischen Anspruchs durchweg extrem unterhaltsam. Und ich meine: extrem unterhaltsam. Ich glaube, ich konnte kaum eine Seite umblättern, ohne nicht mindestens einmal vorher in Gelächter ausgebrochen zu sein, und ich wollte Fortsetzung des Berichts, den ich vor einigen Jahren ziemlich eilig durchgelesen hatte, am liebsten gleich noch einmal lesen, und am liebsten nur noch Ror Wolf lesen, und sogar über meinen sportunterrichtstraumatisierten Schatten springen und seine Fußballbücher lesen. Und ich werde es bald tun.

Die Gefährlichkeit der großen Ebene gibt’s in verschiedenen Ausgaben: Ich habe die antiquarisch erhältliche Suhrkamp-Ausgabe von 1976 gelesen, die neben dem Roman auch 18 Prosa-Miniaturen aus der Serie Die Männer und die Detektivgeschichte Neumanns Bedeutung für die Allgemeinheit umfasst. Insgesamt 171 Seiten, davon 142 für den Hauptroman, inklusive Illustrationen.

Außerdem gibt es vom Schöffling-Verlag eine neu aufgelegte, erweiterte Leinenausgabe mit zusätzlichen Texten (u.a. 101 Männer-Prosaminiaturen) für etwa 40€ (370 Seiten) sowie eine weitere Ausgabe zusammen mit der Abenteuerserie Pilzer und Pelzer (aus der auch Neumanns Bedeutung für die Allgemeinheit stammen dürfte) für rund 20€ (360 Seiten).

Schmock

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 17. Dezember 2013 von in Literatur und getaggt mit , , , .
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